Gedankeninsel

2024-07-15

Gedanken zur Zeit

Die Zeit heilt alle Wunden? 

“Die Zeit heilt alle Wunden!” Ich habe diesen gut gemeinten tröstenden Zuspruch des persönlichen Umfeldes nach Verlusterfahrungen schon oft gehört. Aber: Heilt die Zeit wirklich alle Wunden? Oder nur manche? Oder heilt sie vielleicht gar nicht?

Vor-vor-gestern vor genau 20 Jahren starb mein Vater. 20 Jahre sind eine lange Zeit. Mein halbes Leben verbringe ich nun schon ohne ihn. Tat es beim Gedanken an jenen Tag, an jene Stunde seines Todes deshalb weniger weh, weil schon so viele Jahre ins Land gegangen sind? Nein. Ganz im Gegenteil: Ich kann selbst nach 20 Jahren den Schmerz noch genau fühlen, der mich damals ergriff. Habe seine letzten Bilder vor Augen. Und im Herzen. Und ich finde, das ist okay. Okay deshalb, weil die 20 Jahre mir etwas anderes gezeigt haben. Nämlich wofür es sich lohnt weiterzuleben. Dass es schön ist, dieses Geschenk des Lebens zu erhalten. In dieser Lebens-Schatzkiste fehlt jemand, aber sind dadurch alle anderen Schätze inklusive der Erinnerungen weniger wert? Natürlich nicht. In meinen letzten 20 Jahren kamen viele neue Schätze dazu, wahre Geschenke, für die ich dankbar bin. Ich bin auch nach 20 Jahren noch traurig, dass es keine Erlebnisse mehr mit meinem Vater gab, aber das, was mir die letzten 20 Jahre schenkten, ließ die Wunden vernarben, die der Verlust mit sich brachte.

Wir alle tragen Narben mit uns, sind vom Leben gezeichnet. Jede Falte, jedes graue Haar zeigt uns, wo wir herkommen. Das Herz aber zeigt uns wo wir hin wollen. Es ist die Zeit, die dem Herzen zeigt, dass und warum es nach Verlusten und vielen Tränen auch wieder lachen darf. “Herz, nimm Abschied und gesunde” schrieb Hermann Hesse. Dass es das tut, ist kein Verdienst der Zeit, sondern unser ganz eigener. Die Zeit heilt keine Wunden. Wir sind es, die Wunden vernarben lassen und uns dem Leben öffnen. Den Blick auf die Freude richten. Auf die Liebe. Darauf, wofür es sich lohnt zu leben.